ESG
- In vielen Teilen der Welt integrieren immer mehr Investmentmanager in Reaktion auf die Nachfrage ihrer Kunden und auf neue Regulierungen ökologische, soziale und governancebezogene Kriterien (ESG) in ihren Investmentprozess.
- Bei der ESG-Integration, dem am weitesten verbreiteten Ansatz, geht es vor allem darum, jene ESG-Chancen und -Risiken zu erkennen, die vermutlich Einfluss auf den langfristigen Wert einer Anlage haben.
- ESG-Integration leistet zudem einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung von Investmentideen, zum Research und zu Analysen und unterstützt beim Engagement von Emittenten von Aktien und Anleihen.
Sehr viele Investmentmanager berücksichtigen ESG-Faktoren bei der Portfoliokonstruktion. Neunzig Prozent der 1.130 in unserer jüngsten Globalen ESG-Studie* befragten internationalen Investoren binden ESG in ihren Ansatz ein. Als wichtigste Gründe wurden von früheren Umfrageteilnehmern die steigende Kundennachfrage und der Wunsch, etwas zu bewirken, neue Regulierungen und ein stärkeres Bewusstsein für die finanziellen Auswirkungen von ESG-Faktoren genannt.
Gemessen am verwalteten Vermögen ist die ESG-Integration der bisher am weitesten verbreitete Ansatz. Hierbei versuchen die Investmentexperten, ihre Analysen durch die Einschätzung von ökologischen, sozialen und governancebezogenen Chancen und Risiken zu verbessern, die wesentlichen Einfluss auf die Investmentergebnisse haben könnten. ESG-Integration gilt allgemein als eine Ausweitung der Analysen, wobei sich auf ESG-Fragen konzentriert wird, die wesentlich für die Investmententscheidung sind.
Weltweit ist die ESG-Integration der am weitesten verbreitete ESG-Ansatz†
Trotz seiner Beliebtheit ist dieser Ansatz nicht exakt definiert. Es gibt keinen entsprechenden internationalen Standard, und er ist weder in Berichts- noch in Regulierungsrahmen erfasst.
Jeder Manager wird für die ESG-Integration so lange eine eigene Form der Umsetzung haben, bis man sich auf einen gemeinsamen globalen Standard einigen wird. Einige Manager nutzen die ESG-Integration möglicherweise in Kombination mit anderen ESG-Ansätzen, wie Ausschlussfiltern oder einer Auswahl nach bestimmten Kriterien. In der Regel richtet sich der ESG-Ansatz eines Managers nach dessen Investmentphilosophie, Kunden und dem Markt, an dem er tätig ist.
Das große Ganze: Langfristige Wertschöpfung
Durch eine effektive ESG-Integration kann man ein Unternehmen besser verstehen und mit anderen Emittenten vergleichen, weil man neue Erkenntnisse für die Analyse gewinnt. Deshalb gilt sie bei aktiven Managern zunehmend als wichtige Weiterentwicklung des Investmentprozesses. Beispielsweise können Unternehmen mit Innovationen in der Produktion von Papier und Verpackungen helfen, die Bedenken von Verbrauchern zu zerstreuen und sich auf neue Regulierungen zu Einwegplastik vorbereiten. Hinzu kommt, dass die Verbraucher umweltfreundlichere Produkte wollen – eine wichtige Chance für Anlagen zum Thema Umwelt. Dagegen könnte eine schwache Kontrolle in der Lieferkette eines Multinationals aus dem Chemiesektor zu einer ungünstigen Beschaffung von Arbeitskräften und Rohstoffen und zu Mängeln bei der Abfallbeseitigung führen. Dadurch können auf das Unternehmen Reputationsrisiken und rechtliche Schritte zukommen – ein wichtiges soziales Risiko.
Die Analyse wesentlicher ESG-Themen hat den Investmentexperten von Capital Group geholfen, Chancen und Risiken zu sehen, die der Markt möglicherweise falsch einschätzt. Dadurch haben sie einzigartige Erkenntnisse gewonnen.
Im Folgenden nennen wir drei Beispiele, wie die ESG-Integration unseren Investmentprozess verbessert hat:
1. Neue Investmentideen
Das Erkennen attraktiver Bewertungschancen oder Fehlbewertungen ist eine der größten Herausforderungen beim Investieren. Megatrends, weltpolitische oder wirtschaftliche Entwicklungen, neue Regulierungen und Gesetze sowie neue Technologien und Innovationen können für ein Unternehmen, einen Emittenten und manchmal sogar für einen ganzen Sektor Chancen oder Risiken sein. Ein aktuelles Beispiel für das Zusammenspiel von Investmentanalyse und ESG-Megatrends ist das eines japanischen Multinationals. Am Anfang des Research hat einer der Investmentanalysten von Capital Group herausgefunden, dass umweltfreundliche Heizungen und Klimageräte bis zu 70% Anteil am Gesamtumsatz des Unternehmens haben.
Durch die weltweit steigenden Temperaturen, Urbanisierung, Bevölkerungswachstum und höhere Einkommen dürfte die Nachfrage nach Klimaanlagen steigen. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass diese Nachfrage 2050 drei Mal so hoch sein könnte wie 2018, sodass das Unternehmen gut auf die Zukunft vorbereitet ist. Aber Klimaanlagen haben weltweit 10% Anteil am verbrauchten Strom und produzieren Schätzungen zufolge jährlich 4% der globalen Treibhausgase.‡ Das zeigt, wie wichtig hier energieeffiziente Produkte sind.
2021 verbrauchten 99% der von diesem Unternehmen verkauften Klimageräte 30% weniger Strom als ein konventionelles Gerät. Das entspricht mindestens 66% weniger Beitrag zur Erderwärmung.
Das Research des Investmentanalysten zeigt, dass das Unternehmen angesichts des allgemeinen Nachfrageanstiegs für energiesparende Produkte Marktanteile bei Heizung, Lüftung und Klimatechnik (HAVC) gewinnen könnte. Die Innovationen im Bereich Umwelt sind nur ein Beispiel dafür, wie ESG-Integration unseren Investmentanalysten geholfen hat, eine spannende langfristige Chance zu erkennen und zu begründen.
Ökologische und soziale Trends helfen bei der langfristigen Wertschöpfung: Beispiel Heizung, Lüftung & Klimatechnik
2. Besseres Investmentresearch, bessere Analysen
Zu verstehen, welche langfristigen Auswirkungen ein ESG-Thema auf ein Investment haben kann, ist eine komplexe Aufgabe. Der Umgang eines Unternehmens mit seinen Kunden, Zulieferern, Aufsichtsbehörden – und sogar mit seinen Mitarbeitern – kann seine Ergebnisse und Aussichten beeinflussen. Die Analyse von ESG-Themen verbessert das Fundamentalresearch, das die Grundlage unseres Investmentansatzes ist, The Capital SystemTM. Sie hilft unseren Investmentexperten, Unternehmen und Emittenten, in die sie investieren, besser und genauer zu verstehen.
Beispielsweise gelten Humankapital und Boardvielfalt in unseren Anlagerichtlinien für viele Sektoren als wesentliche ESG-Themen, und unserem ESG-Analysten für den Gesundheitssektor sind kürzlich bei einem europäischen Medizingerätehersteller bei diesen beiden Themen Bedenken gekommen. Die Stimmung der Mitarbeiter (gemessen an Daten des alternativen Datenanbieters Glassdoor) war im Vergleich zum Gesamtsektor unterdurchschnittlich – ein mögliches Risiko für die Gewinnung und Bindung guten Personals. Hinzu kam ein niedriger Frauenanteil im Board, was nach Ansicht unseres Analysten ein erhebliches Risiko ist, weil es dadurch an Perspektivenvielfalt mangelt und das Board weniger effizient arbeitet.
Aufgrund dieser Erkenntnisse kam es zu einem Gespräch zwischen unseren ESG-Analysten, einem Aktienportfoliomanager und Boardmitgliedern des Unternehmens. Insbesondere wollten wir wissen, warum sich die Stimmung der Mitarbeiter verschlechtert hat, und erfahren, was das Unternehmen in puncto Erweiterung des Boards plant.
Im Rahmen dieses Engagementgesprächs erklärte das Unternehmen, dass die schlechtere Stimmung vor allem auf die kürzliche Umstrukturierung der Vertriebsabteilung und Änderungen in der Führungsstruktur zurückzuführen sei. Hinzu gekommen sei ein Rückgang des Aktienkurses mit Auswirkungen auf die Aktienanteile der Mitarbeiter. Unser ESG-Analyst und der Portfoliomanager von Capital Group erfuhren auch, dass das Unternehmen in Reaktion darauf Maßnahmen getroffen hat, um die Fluktuation zu senken, darunter berufliche Weiterentwicklungschancen, Aktienboni, Prüfungen der Vergütungen und interne Umfragen zur Mitarbeiterstimmung. Seit März 2023 hat das Unternehmen zudem den Frauenanteil im Board auf 30% erhöht.
Auf diese Weise hat die ESG-Integration unserem Team geholfen, wichtige Bedenken zu den Themen Humankapitalmanagement und Boardvielfalt zu hinterfragen, die Einfluss auf die Performance des Unternehmens haben könnten, und die Hintergründe besser zu verstehen. Zudem war das Unternehmen offen für die Anregung unseres Teams, öffentlich über diese Themen zu berichten und damit in Zukunft für mehr Transparenz für Aktionäre zu sorgen.
Eine nachlassende Mitarbeiterstimmung birgt das Risiko, gute Mitarbeiter zu verlieren: Beispiel Medizintechnologie
ESG-Integration kann auch dazu führen, dass man seine Investmentthese ändert. Beispielsweise wurde ein südamerikanischer Emittent im Rahmen unseres Staatsanleihen-Kontrollprozesses mit einem Warnhinweis versehen und musste eingehender analysiert werden. Die wichtigsten Gründe für diesen Warnhinweis waren die sinkenden Werte bei der Governance Dritter und im Bereich Soziales (gemessen an den Worldwide Governance Indicators der Weltbank und dem Human Development Index der Vereinten Nationen). Nach den Hinweisen hatten die Korruptionskontrollen und die Überlebensquoten Neugeborener in dem Land nachgelassen.
Einer unserer Anleihenanalysten führte daraufhin eine genauere Untersuchung dieser Themen durch. Die Maßnahmen dieses Emittenten zur Korruptionskontrolle waren schon seit vielen Jahren immer schlechter geworden, und nach Einschätzung unseres Analysten könnten die weltpolitischen Risiken des Landes aufgrund dieser Entwicklung steigen. Er war zudem der Ansicht, dass sie die künftige Fähigkeit des Landes, finanzielle Unterstützung vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder multilateralen Einrichtungen (die häufig die letzte Rettung sind) zu erhalten, belasten könnte. Unterdessen stellte er fest, dass der Rückgang der Überlebensquoten Neugeborener vor allem auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen war und angesichts des finanziell schlecht ausgestatteten staatlichen Gesundheitssystems keine nennenswerte Verbesserung zu erwarten sei.
Deshalb wurde der Analyst vorsichtiger und hielt es für sinnvoll, nur in geringem Umfang in das Land zu investieren. Aus seiner Sicht wurden Anleiheninvestoren nicht ausreichend für die Verschlechterung des Kreditrisikos des Landes, die teilweise auf die Bedenken im Zusammenhang mit der Korruptionskontrolle zurückzuführen waren, entschädigt. Die Überführung von ESG-Daten Dritter in Erkenntnisse, die zu aktiven Entscheidungen führen, ist eine weitere Möglichkeit der Wertschöpfung durch ESG-Integration.
3. Unterstützung von intensiverem Engagement bei Emittenten
Engagement bei Unternehmen und Emittenten ist wichtig, um Geschäftsleitungen und ihre Strategie zu verstehen und die Investmentrisiken einzuschätzen. Engagement zu wichtigen ESG-Chancen und -Risiken kann viele Themen betreffen, von der Arbeitsmoral der Mitarbeiter (wie oben beschrieben) bis zu Feinheiten von Risiken im Zusammenhang mit Umweltvorschriften. Wenn unsere Investmentexperten hier ein besseres Verständnis entwickeln, können sie auch besser informierte Entscheidungen treffen und Unternehmen anhalten, in Zukunft transparenter über solche Themen zu berichten.
In einigen Branchen kommt es häufiger zu Engagement zu bestimmten Themen als in anderen, etwa zu Führungskräftevergütung im IT-Sektor und anderen wachstumsstarken Bereichen der Wirtschaft.
Kürzlich hatte einer unserer Investmentanalysten Bedenken wegen der Vergütungsstruktur eines US-Anbieters von Personalsoftware und -dienstleistungen. Er sprach über längere Zeit immer wieder mit dem Unternehmen über dessen Vergütungsrichtlinien und darüber, wie man sie besser an den Aktionärsinteressen ausrichten kann.
Dauervereinbarungen (Evergreen), bei denen der Anteil der Aktien, die für einen Aktienbonusplan ausgegeben werden können, jedes Jahr automatisch steigt, ohne dass die Aktionäre zustimmen müssen, waren für ihn ein besonders wichtiger Punkt. Durch die Dauervereinbarung konnte die Aktienreserve des Unternehmens während der zehnjährigen Laufzeit des Aktienbonusplans jedes Jahr um bis zu 3% des umlaufenden Aktienvermögens aufgestockt werden – ein klares Verwässerungsrisiko, durch das langfristigen Investoren Wert verloren gehen könnte.
Nach weiteren Untersuchungen und Analysen traf sich unser Investmentanalyst mit dem Unternehmen, um über Branchenstandards zu Bonusplänen sowie das Verwässerungsrisiko und dessen Folgen für langfristige Investoren zu sprechen.
Das Board stimmte einer Überarbeitung des Bonusplans zu, bei der die Dauervereinbarung gestrichen wurde. Außerdem wurde dem Unternehmen nun bewusst, dass es branchenüblich ist, alle paar Jahre auf der Jahreshauptversammlung über die Verwendung einer bestimmten Menge von Aktien für den Aktienbonusplan abstimmen zu lassen. Dadurch können Aktionäre das Verwässerungsrisiko besser einschätzen. Die ersten Analysen zu diesem Governancethema veranlassten unseren Analysten zum Engagement bei diesem Unternehmen. Sie waren die Grundlage für Gespräche über eine bessere Ausrichtung an den Aktionärsinteressen.
Fazit: ESG-Integration kann traditionelle Finanzanalysen ergänzen
Diese drei Beispiele zeigen, dass ESG-Integration helfen kann, auch nicht finanzielle Probleme zu erkennen, die Einfluss auf die langfristigen Investmentaussichten haben.
Ähnlich wie bei anderen Investmentargumenten geht es bei der ESG-Integration darum, relevante Daten und Erkenntnisse zu berücksichtigen, die bei der Einschätzung, der Bewertung und bei Investmententscheidungen helfen. Für sich genommen mag jeder in den Investmentprozess einfließende Faktor begrenzten Nutzen haben. Aber insgesamt kann ESG-Integration traditionelle Finanzanalysen ergänzen und helfen, das „Puzzle“ des Investierens zu vervollständigen.
Aktuelle Analysen und Einschätzungen zu ESG-Themen finden Sie im Bereich Dokumente
Ihr Zugang zu allen ESG-Informationen bei Capital Group
Unsere neuesten Erkenntnisse
* Globale ESG-Studie 2023 von Capital Group, bei der von März bis Mai 2023 1.130 Investmentexperten aus 25 Ländern befragt wurden.
†Einordnungen nach den Kategorien von Broadridge Global Market Intelligence zum verantwortlichen Investieren; gekürzte Definitionen unten. Die vollständigen Definitionen erhalten Sie von Broadridge Global Market Intelligence.
ESG-Integration: Strategien, die ESG-Themen systematisch in den Investmententscheidungsprozess einbinden und/oder aktive Abstimmungs-/Engagementstrategien verfolgen
Auswahl nach ESG-Kriterien: Strategien, die Unternehmen auswählen, die den besten ESG-Score in einem bestimmten Sektor haben und die Gewichtung von Unternehmen nach der Qualität ihres ESG-Scores ausrichten
Negativfilter (Ausschlüsse): Strategien, die Ausschlussfilter auf ein Portfolio anwenden, die über die Standardausschlüsse umstrittener Waffen, bestimmter Sektoren, Unternehmen oder Praktiken auf Grundlage von ESG-Kriterien oder normbasierte Filteransätze hinausgehen
Nachhaltiges Investieren: eine Vielzahl themenorientierter Strategien, einschließlich auf eine oder mehrere Themen ausgerichteter Fonds und Strategien, die explizit einen bestimmten CO2-Fußabdruck anstreben
Impact Investing: Strategien, die neben Finanzerträgen einen expliziten Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung anstreben, darunter Strategien für grüne und soziale Anleihen. Hierbei handelt es sich vor allem um Private Equity oder nicht liquide Produkte.
Nicht näher definierte ESG-Strategien: sonstige Strategien mit ESG-Bezug
‡Jason Woods, Nelson James, Eric Kozubal, Eric Bonnema, Kristin Brief, Liz Voeller, Jessy Rivest: „Humidity’s impact on greenhouse gas emissions from air conditioning“, Joule, Band 6, Heft 4, 2022.