ESG
In puncto ESG haben sich die Medien in letzter Zeit verständlicherweise vor allem auf die Themen Energiewende und -sicherheit konzentriert. Aber hinter den Schlagzeilen gibt es viele andere ESG-Faktoren, die Einfluss auf die Investmentchancen in unterschiedlichen Sektoren haben.
Die ESG-Experten und Investmentanalysten von Capital Group erläutern fünf ESG-Themen, die ihre Einschätzungen beeinflussen.
Eine bittere Pille: Produktrückrufe von Pharmazieunternehmen
Nach Schätzungen von Violation Tracker vom April 2023 mussten Pharmazieunternehmen seit 2000 nach straf- und zivilrechtlichen Prozessen weltweit über 95 Milliarden US-Dollar Strafen zahlen.
Probleme mit der Produktsicherheit können dem Endverbraucher schaden, kostspielige Rückrufe erfordern, mit dem Verlust von Marktanteilen einhergehen sowie strengere Prüfungen durch Aufsichtsbehörden und teure Geldstrafen nach sich ziehen. Dennoch ist die Produktsicherheit einer der häufig unterschätzten sozialen ESG-Faktoren, die Biotechnologie- und Pharmazieunternehmen stark belasten können.
Für die Beurteilung der Produktqualität und -sicherheit bei einem bestimmten Unternehmen nutzen unsere Investmentanalysten Daten aus unterschiedlichen Quellen, darunter die US Food and Drug Administration (FDA, US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel), Bloomberg und Refinitiv, um über Warnschreiben, Produktrückrufe und Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Gesundheitsbeeinträchtigungen von Verbrauchern informiert zu bleiben. Formulare 483 werden an Unternehmen verschickt, bei denen eine Untersuchung ergeben hat, dass die Produktionsbedingungen möglicherweise gegen den Federal Food, Drug, and Cosmetic Act verstoßen, und können Einzelheiten zu Produktsicherheitsbedenken bei Pharmazie- und Biotechnologieunternehmen enthalten.
„Wenn ich an die verschiedenen wesentlichen ESG-Risiken im Biopharmasektor denke, kommen mir als Erstes Produktsicherheit und rechtliche Auseinandersetzungen in den Sinn. Geldstrafen und Produktrückrufe können Ruf und Gewinnen eines Unternehmens erheblich schaden. Die Beobachtung von Formular-483-Warnungen der FDA ist sehr wichtig, um die Produktrisiken in den von mir abgedeckten Bereichen zu verfolgen“, sagt Aktienanalystin Judith Finegold.
Für das Management von Produktsicherheitsrisiken sind zuverlässige interne Kontrollen und Rechenschaftspflicht unabdingbar. Beispielsweise kontrolliert das aus 2.500 Wissenschaftlern, Pharmakologen und anderen Gesundheitsexperten bestehende Global Quality Team von Eli Lilly die Produkte während ihres gesamten Lebenszyklus, damit das Unternehmen die aufsichtsrechtlichen Vorgaben einhält. Dadurch liegt die Zahl der Produktrückrufe bei Eli Lilly in den letzten drei Jahren unter dem Durchschnitt der Biopharmabranche. Aber: Diese Zahl sagt nicht alles. Unsere Investmentanalysten und Portfoliomanager betrachten eine ganze Reihe von Kennzahlen zur Produktqualität und -sicherheit, wenn sie ihre Investmentthese entwickeln.
Am Ende bedeuten weniger Produktrückrufe und Rechtskosten, dass Unternehmen mehr Geld für möglicherweise umsatzträchtige Investitionen in Forschung, Entwicklung und Produktanwendungen haben.
Die US FDA dokumentiert jedes Jahr Hunderte möglicher Regulierungsverletzungen
Innere Werte: Lithiumbeschaffung für Automobilhersteller
Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) aus dem März 2022 benötigt ein Elektrofahrzeug sechsmal so viele mineralische Rohstoffe wie ein traditionelles Auto mit Verbrennungsmotor. Lithium ist einer der wichtigsten Rohstoffe, die man für die Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge benötigt.
Die IEA geht davon aus, dass die Lithiumnachfrage 2050 unter der Annahme, dass bis dahin das Netto-Null-Ziel erreicht ist, fast 26-mal so hoch sein wird wie 2022. Zu den wichtigsten Nachhaltigkeits- und aufsichtsrechtlichen Risiken der Lithiumförderung und -verarbeitung zählen der hohe Wasserverbrauch und die mögliche Verletzung der Rechte der indigenen Bevölkerung. Beispielsweise können Unternehmen in Deutschland, die das Lieferkettengesetz nicht einhalten, mit einer Strafe von bis zu 2% ihres Jahresumsatzes belegt werden. Deshalb steht die nachhaltige Beschaffung bei vielen Automobilherstellern ganz oben auf der Agenda.
Die interne ESG-Datenplattform Ethos von Capital Group führt Informationen aus einer Reihe externer Datenquellen zusammen, um ein Bild davon zu vermitteln, was Unternehmen tun, um soziale Risiken in ihren Lieferketten zu mindern. Dazu zählt auch die Zahl der durchgeführten Prüfungen von Zulieferern. Unsere Investmentanalysten können diese und andere Daten für ihre Einschätzung der Lieferkettenrisiken von Automobilherstellern nutzen.
„Wir haben festgestellt, dass in puncto nachhaltige Lieferketten bestimmte etablierte Autohersteller mit kleinerem Produktionsvolumen führend sind“, sagt Anleihenanalyst Danny Jacobs. „Die Beschaffung von Rohstoffen [wie Lithium] oder die Transparenz der gesamten Lieferkette sind Beispiele für ESG-Aspekte, die Auswirkungen auf das operative Geschäft und die Emissionen haben und somit auch das Finanzergebnis beeinflussen können“, fügt er hinzu.
BMW, das als erster Automobilhersteller der Initiative for Responsible Mining Assurance (IRMA) beigetreten ist, verspricht Transparenz und den Rohstoffkauf direkt bei Produzenten aus Australien und Argentinien. Außerdem arbeitet BMW unter anderem mit dem Lithiumanbieter Livent aus den USA zusammen, um seine Lieferkette zu diversifizieren und seine Produktion widerstandsfähiger gegen Engpässe zu machen.
Zeigen Autos ihre inneren Werte? ESG-Risikomanagement bei Rohstoffen
Effiziente Regierungen: Governance bei Staaten
Governancethemen wie die Zusammensetzung des Boards, Führungskräftevergütung und Nachfolgeplanung gelten bei Aktien- und Anleiheninvestoren allgemein als wesentliche ESG-Faktoren.
Aber für Staatsanleiheninvestoren sind governancebezogene Themen nicht weniger wichtig. Der Faktor Governance ist wichtig für Kreditrating- und -bewertungsmodelle und hilft Investmentexperten, die politische Stabilität, die Regulierungsqualität und das Korruptionsrisiko eines Landes einzuschätzen.
Unsere Staatsanleihenanalysten nutzen unter vielen anderen Informationen die Worldwide Governance Indicators der Weltbank, um die Governancequalität zu beurteilen. Veränderungen oder Warnhinweise beim Korruptions-Ranking, bei der Qualität der Regierung, der politischen Stabilität und Regulierungsqualität können bei der Entwicklung der Investmentthese helfen.
„Kein Risikohinweis bedeutet aber nicht, dass es keine Risiken gibt. Verbesserungen oder Verschlechterungen sind nicht immer ein kontinuierlicher Prozess“, sagt Staatsanleihenanalyst Holger Siebrecht.
Angola ist ein Beispiel für einen Emittenten, der bei der Korruptionskontrolle und bei der Regulierungsqualität klare Fortschritte gemacht hat. Zu den Verbesserungen zählen die Antikorruptionskampagnen der Lourenço-Regierung und die Privatisierung mehrerer Staatsunternehmen. Beides hat die Möglichkeiten für Korruption und Vetternwirtschaft eingeschränkt. Anfang 2022 hat die Agentur Fitch Ratings Angolas Long-Term Foreign-Currency Issuer Default Rating von CCC auf B- heraufgesetzt.
Aber nicht in allen Bereichen hat sich die Governance verbessert. Die Scores für Rechtsstaatlichkeit, Mitspracherecht und Rechenschaftspflicht sind gegenüber dem Vorjahr etwas zurückgegangen, was zeigt, wie wichtig es ist, bei der Beurteilung von Investmentrisiken mehrere Indikatoren heranzuziehen.
Angola hat seine Governance durch neue Programme zur Korruptionsbekämpfung verbessert
Liquiditätsrisiko: Wasserverbrauch von Chipherstellern
Nach Angaben der Vereinten Nationen aus dem April 2023 dürfte 2030 bis zu 40% weniger Süßwasser zur Verfügung stehen. Zwar werden Umweltfaktoren weithin als wichtige ESG-Themen betrachtet, aber der Faktor Wasserverbrauch wird in vielen Branchen häufig unterschätzt.
Halbleiter sind wichtige Komponenten in der Technologie, beispielsweise von Smartphones, und zählen zu den drei Branchen mit dem höchsten Wasserverbrauch. Für die Produktion von Wafern werden enorme Mengen an Reinstwasser benötigt, um die Kontamination der Geräte zu verhindern. Laut Sustainalytics (Stand März 2017) verbraucht eine typische Produktionsanlage täglich 2 bis 4 Millionen Gallonen Reinstwasser, was dem täglichen Wasserverbrauch von etwa 13.000 Haushalten entspricht.
Unsere ESG-Experten haben Analysen durchgeführt, um zu verstehen, wie Wasserrisiken die Gewinne von Unternehmen gefährden können. „Die größten Kosten werden den Unternehmen durch Produktionsunterbrechungen, Projektausfälle und Schwierigkeiten bei der Einholung von Genehmigungen entstehen, nicht durch steigende Wasserpreise“, erläutert ESG-Spezialistin Emma Doner.
Unsere ESG- und Investmentanalysten nutzen die Aqueduct Tools des World Resources Institute, um herauszufinden, wo die Wasserrisiken besonders hoch sind, und stellen diese Regionen dann den Produktionsstandorten eines Unternehmens gegenüber. Im Zuge ihrer Bemühungen um eine Diversifizierung der Produktionsstandorte haben Halbleiterunternehmen wie Intel und Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) ihre Aktivitäten unter anderem auf den Südwesten der USA ausgedehnt – eine Region mit extremem Wassermangel.
Trotz der erwarteten Wasserknappheit in der Region ist Intel zuversichtlich, dass es für seine Prozesse stets ausreichend Wasser haben wird. Die einzigartige Wasseraufbereitungs- und Recyclinganlage von Intel ermöglicht es dem Unternehmen, jeden Tag fast 9 Millionen Gallonen Wasser für eine erneute Nutzung aufzubereiten. Durch diese und andere interne Maßnahmen kann Intel jedes Jahr weltweit über 9 Milliarden Gallonen Wasser einsparen. Auch der Wettbewerber TSMC geht davon aus, dass seine neue Microchip-Produktionsanlage in Arizona bis nahezu 90% des genutzten Wassers recyceln kann.
Wassermanagement hilft diesen Halbleiterunternehmen nicht nur, Geschäftskontinuitätsrisiken zu mindern. Sie erfüllen damit auch die Anforderungen ihrer Kunden, die Produkte wünschen, bei deren Herstellung weniger Wasser und Energie verbraucht werden.
Dreifache Gefahr? Die drei größten Halbleiterunternehmen könnten sehr stark von Wasserknappheit betroffen sein
Roboter über alles: KI und Verbraucherdaten
Nach einem Bericht von MarketsandMarkets aus dem November 2022 wird sich das Marktvolumen von Künstlicher Intelligenz (KI) bis 2027 mehr als vervierfachen, von 86,9 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 auf über 407 Milliarden. Die immer stärkere Nutzung von Technologie hilft Unternehmen, Bereiche wie Marketing, Produktion und Prozesse zu optimieren – und die Kosten zu senken.
„Der Einsatz von KI befindet sich an einem Wendepunkt und wird die Welt grundlegend verändern! Deshalb wird der Datenschutz ein immer wichtigerer Faktor für Reputations- und rechtliche Risiken für KI-Entwickler und -Nutzer“, sagt Aktienanalyst Mihir Mehta.
Die stärkere Verbreitung von KI lässt die Frage nach einer KI-Ethik aufkommen, ein ESG-Thema, das in mehreren Sektoren an Bedeutung gewinnt. Das Risiko unangemessener Datennutzung und der missbräuchliche Einsatz von KI werden aufsichtsrechtliche Prüfungen, Rechtskosten und Reputationsrisiken nach sich ziehen. Deshalb entstehen neue Governancefaktoren und Kontrollteams, die diese Risiken steuern, werden vor dem Hintergrund eines sich verändernden Regulierungsumfelds immer wichtiger.
Nach den Untersuchungen unserer ESG-Analysten stellen Unternehmen freiwillige Governancestandards zu sechs KI-Themen auf: Menschenrechte, Gleichbehandlung, Rechenschaft gegenüber Menschen, Datensicherheit, Datenschutz und Erklärbarkeit. Diese Indikatoren können den Analysten von Capital Group helfen, Unternehmen und Emittenten in puncto Umgang mit Daten, Governance und Datenschutz einzuschätzen.
Einige Unternehmen bereiten den Weg für künftige Normen. Microsoft und Alphabet waren die Ersten, die KI-Ethikrichtlinien eingeführt haben. Microsoft zählt zu den ersten Unternehmen, die verantwortungsbewusste KI-Standards entwickelt haben. Sie enthalten transparente Richtlinien, die noch weiterentwickelt werden und regeln, wie seine Kunden KI-Programme nutzen. Kürzlich hat Microsoft seine Richtlinien dahingehend aktualisiert, dass Unternehmen seine Technologie nicht dazu nutzen dürfen, mithilfe der Gesichtserkennungstechnologie auf Emotionen, Geschlecht oder Alter zu schließen. Allerdings wird es schwierig sein sicherzustellen, dass diese Regeln eingehalten werden. Zwar haben die Unternehmen schnell reagiert, um mit Richtlinien die Nutzersicherheit für Produkte wie KI-gesteuerte Chats zu verbessern, aber es gibt noch viel zu lernen.
Der Anteil der Investitionen in KI an den Unternehmensbudgets steigt