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Marktvolatilität
Interview: Investieren in Zeiten politischer Unsicherheit
Kirstie Spence
Portfoliomanager
Victor Kohn
Aktienportfoliomanager

Seit der Invasion Russlands in die Ukraine haben politische Risiken an Bedeutung gewonnen. Aber das Thema des Investierens in Zeiten politischer Unsicherheit ist nicht neu. Die erfahrenen Portfoliomanager Kirstie Spence und Victor Kohn sprechen darüber, wie sie bei ihren Emerging-Market-Anlagen mit politischen Risiken umgehen.


Durch den Russland-Ukraine-Konflikt achten wir wieder wesentlich mehr auf politische Risiken. Wie gehen Sie beim Investieren dieses Thema an?


Kohn: Wenn wir Investmententscheidungen treffen, analysieren wir immer auch themenorientierte Risiko-Ertrags-Profile. Das politische Risiko ist eines dieser Themen, und zwar ein sehr wichtiges – und es spielt nicht nur in Ländern wie Russland eine Rolle.


Leider gibt es weltweit viele weitere territoriale Konflikte, beispielsweise zwischen Türken und Kurden, in Marokko und in der Westsahara. Es zählt zu unseren Aufgaben, über solche Situationen stets gut informiert zu sein und ihre Auswirkungen zu kennen.


Auch Regierungswechsel sind eine Form von politischem Risiko, das wir genau beobachten. Der Ausgang einer Wahl kann weitreichende Folgen haben. Das berücksichtigen wir bei unseren Investmentüberlegungen. Vor allem in Emerging Markets wie Brasilien sind Regierungswechsel manchmal folgenreich, aber auch in Industrieländern wie den USA. 


Ein extremeres Risiko ist, dass wir unsere Portfolios nicht mehr managen können. Dies kann aufgrund von Sanktionen der Fall sein. Auch diesen wichtigen Aspekt beobachten wir. In diesem Zusammenhang besteht zudem das Risiko, dass ein Emittent keinen Marktzugang mehr hat. Das ist vor allem für ausländische Investoren von Bedeutung. Diese Risiken sind eine erhebliche Gefahr, weil durch sie Teile unserer Portfolios möglicherweise nicht mehr gehandelt werden können.


Durch den Russland-Ukraine-Konflikt sind diese Themen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Aber tatsächlich beobachten wir im Rahmen unseres Anlageprozesses für Emerging-Market-Papiere immer verschiedene politische Risiken in vielen Ländern.


So ist China der größte Emerging Market, und lange haben wir hier bei Investitionen vor allem auf die Entwicklung der Beziehungen mit den USA geachtet. Bei unseren Kontrollen betrachten wir die Risiken im Zusammenhang mit chinesischen ADRs1 und Unternehmen mit einer VIE-Struktur2, einschließlich der Risiken von Sanktionen beider Seiten.


Wir schauen, wie hoch die Risiken sind, um festzustellen, welchen Einfluss sie auf unsere Anlagen haben können. Besondere Ereignisse können das Ausmaß dieser Risiken verändern, sodass wir unsere Analysen kontinuierlich anpassen müssen.


Spence: Emerging-Market-Anlagen sind Investitionen in Länder mit sehr unterschiedlichen politischen, zum Teil autokratischen, Regimen. Der Angriff Russlands hat einige der sonst eher weniger häufigen Gefahren von Anlagen in Ländern verdeutlicht, in denen politische Entscheidungen kaum kontrolliert werden.


Dennoch würde ich die Invasion Russlands in die Ukraine eher als Schwarzen Schwan bezeichnen als als ein ständiges Risiko. Wir wussten von Anfang an, dass Investments in Russland mit einem bestimmten Risiko verbunden sind, und hatten uns trotz der sehr guten Fundamentaldaten des Landes vorsichtig positioniert. Mit dem Ausmaß der Invasion in die Ukraine haben wir aber nicht gerechnet.


Geschwindigkeit und Ausmaß der Ereignisse haben dazu geführt, dass wir jetzt noch genauer auf autokratisches Verhalten achten und uns Gedanken darüber machen, wie wir es in Zukunft noch besser erkennen können. Allerdings besteht die Gefahr, dass der Versuch, seltene Ereignisse dieser Art zu prognostizieren, zu unausgewogenen Analysen führen kann und dazu, dass man die tatsächlichen Probleme einer Volkswirtschaft aus den Augen verliert.


Die Risiken von Emerging-Market-Investments sind vielfältig und komplex. China ist ein typisches Beispiel. Wenn man in China investiert, hat man es mit kontinuierlichen Risiken wie Wachstum und Entwicklung, aber auch politischen und aufsichtsrechtlichen Themen zu tun. Hinzu kommen ESG-Faktoren wie die Nachhaltigkeit der Lieferketten, Umweltschutz sowie soziale und governancebezogene Faktoren. Diese Risiken werden ständig abgewogen und in unsere Investmententscheidungen eingebunden.


Politische Ereignisse gibt es überall auf der Welt, und sie treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf. Aber ein Einzelereignis sollte nicht die vielfältigen anderen wesentlichen Investmentrisiken in den Hintergrund drängen, nur weil es die größten Schlagzeilen macht.


Emerging-Market-Anlagen sind von Natur aus mit Risiken verbunden. Mit welchen Prozessen versuchen Sie sie zu mindern?


Kohn:  An unserem Investmentprozess sind mehrere Teams beteiligt und leisten Beiträge zur Evaluierung aktueller und möglicher Risiken.


Hierbei spielt die Emerging Markets Risk Working Group (EMRWG) eine wichtige Rolle. Sie beobachtet die Entwicklungen in den Emerging Markets, um mögliche Geschäftsrisiken mit Einfluss auf unsere Portfolios zu erkennen. Dabei konzentriert sie sich auf Marktliquidität und -zugang sowie auf rechtliche und aufsichtsrechtliche Risiken, zu denen auch Sanktionen zählen. Die EMRWG gibt der Investment Policy Group (IPG) Empfehlungen zu Risikokontrollprozessen und -richtlinien. Letztere ist das wichtigste Gremium für die Evaluierung von Risikokontrollen und Grenzwerten für unsere unterschiedlichen Portfolios.


In der EMRWG wurden Arbeitsgruppen zusammengeführt, die sich lange mit Russland und China befasst haben. Die neue Gruppe beobachtet ein umfassenderes Emerging-Market-Anlageuniversum. Ihre Arbeit war ein wichtiger Teil unserer Einschätzung und Kontrolle der Auswirkungen der russischen Invasion der Krim 2014 auf die Risiken. Zu dieser Zeit wurden einige russische Wertpapiere mit Sanktionen belegt, von denen sowohl Anleihen- als auch Aktienportfolios betroffen waren.


Wichtig ist, dass sich die EMRWG nicht mit Standardrisiken beschäftigt, die bereits von unserer Investmentanalyse abgedeckt sind, beispielsweise mit der Frage, ob eine Anleihe bei einem bestimmten Kurs ein attraktives Risiko-Ertrags-Profil hat. Stattdessen beantwortet sie Fragen wie die nach Risiken, durch die möglicherweise größere Teile des Portfolios illiquide werden. Oder die nach der Gefahr, dass wir den Zugang zu den Währungsmärkten verlieren. Ein weiteres Beispiel ist, ob bestimmte Länder in Zukunft von rechtlichen Schritten wie Sanktionen betroffen sein könnten. Das hilft uns, Risikobereiche zu definieren.


Was russische Wertpapiere anbelangt, gab es ja bereits bei der Annexion der Krim Sanktionen. Die EMRWG hat auch unsere Positionierung in China kontrolliert und Empfehlungen ausgesprochen. Hier gilt es, Risiken aus allen Perspektiven zu betrachten. Beispielsweise haben wir Risiken im Zusammenhang mit VIEs erkannt, die der Gefahr aufsichtsrechtlicher Änderungen seitens der chinesischen Regierung unterliegen. Außerdem beobachten wir ADRs, um mögliche aufsichtsrechtliche Einschränkungen der USA einzuschätzen.


Die Strukturierung möglicher Problembereiche hilft uns festzustellen, wo wir möglicherweise besonders aufpassen oder handeln müssen. Manchmal führt das dazu, dass wir einige Positionen unserer Portfolios einschränken müssen, weil die Gefahr besteht, dass wir sie nicht mehr managen können.


Spence: Wichtig ist dabei, dass die EMRWG mit vielen anderen Teams der Capital Group weltweit zusammenarbeitet, nicht nur mit Investmentteams für Aktien und Anleihen. Auch Vertreter der globalen Teams für Recht und Investmentkontrolle leisten Beiträge dazu. Zudem kann die EMRWG bei speziellen Themen auf andere Abteilungen des Unternehmens zurückgreifen. Dadurch profitieren wir von unterschiedlichen Sichtweisen, Fähigkeiten und Erfahrungen, sodass die Gruppe von außen auf die Lage blicken und verschiedene Faktoren gegeneinander abwägen kann.


Die Arbeit der EMRWG erfolgt zusätzlich zu unseren bestehenden Risikokontrollen. Dazu zählen Szenarioanalysen und Stresstests. Für Anleihen werden sie von der Risk and Quantitative Solutions Group (RQS) koordiniert. Sie sind wirksam und waren einer der Hauptgründe dafür, dass wir trotz der guten Fundamentaldaten Russlands vor dem Krieg dort und in der Ukraine nicht übermäßig stark investiert waren.


Eine weitere Komponente der Analyseexpertise der Capital Group ist unser Night Watch Team. Es führt verschiedene Szenarioanalysen für sehr unsichere Ereignisse durch, deren wirtschaftliche und/oder politische Folgen die Märkte stark aus dem Tritt bringen können. Night Watch versucht nicht, die Folgen zu prognostizieren, sondern erstellt vielmehr Modelle dazu, wie sich bestimmte Situationen im Zeitablauf entwickeln können. Dieses Team traf sich regelmäßig während der internationalen Finanzkrise und zum Thema COVID-19. Zudem steuert es immer wieder aktuelle Einschätzungen der Folgen des Russland-Ukraine-Konflikts bei.


Diese Kombination unterschiedlicher Sichtweisen hilft uns bei unseren Investmententscheidungen. Wir können unterschiedliche Szenarien und Kennzahlen in unsere Risikoanalyse einbinden, die Einfluss auf unsere Investmententscheidungen hat.


Sie investieren vorwiegend in den Emerging Markets, aber welche Folgen hat der Russland-Ukraine-Konflikt weltweit?


Kohn: Diese Krise ist nicht nur für die Emerging Markets ein Thema. Niemals zuvor wurden die Reserven Russlands von den westlichen Regierungen eingefroren. Dieser Schritt hatte enorme Auswirkungen auf das globale Finanzsystem. Die meisten von uns analysierten Risiken beziehen sich auf die Emerging Markets, aber wir betrachten sie aus Sicht des Westens. In Zukunft brauchen wir erheblich umfassendere Analysen.


Das große globale Thema, das die Krise in den Mittelpunkt gerückt hat, ist die Energiesicherheit. Jetzt wird sehr viel mehr auf die Verlässlichkeit der Energielieferketten und den Zugang zu Grundstoffen geachtet. Auf Länder-, Branchen- und Unternehmensebene wird von nun an der Verfügbarkeit, der Vielfalt und dem Zugang zu diesen Produktionsfaktoren erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt.


Spence: Den größten Einfluss auf den Anleihenmarkt hatte die weltweit steigende Inflation. Das war zwar schon vor dem russischen Angriff der Fall, hat sich aber jetzt aufgrund der Folgen für die Preise von Weizen/anderen Getreidesorten und Energie intensiviert.  Vermutlich wird die Inflation längere Zeit weltweit hoch sein, auch in den Emerging Markets.


Auch könnte das Einfrieren der Reserven der russischen Zentralbank im Rahmen des Sanktionspakets unseren Standpunkt gegenüber den Reserven anderer Zentralbanken und ihrer Bedeutung für die Kreditwürdigkeit und Schuldentragfähigkeit langfristig verändern – aber es ist noch zu früh, um das abschließend zu beurteilen. Das Risiko des Einfrierens ihrer Reserven könnte einige Länder vor Übergriffen zurückschrecken lassen oder sich in höheren Risikoprämien niederschlagen. Möglicherweise werden einige auch versuchen, ihre Zentralbankreserven zu diversifizieren. Das gilt es im Auge zu behalten, weil es erhebliche Auswirkungen auf die Anleihenmärkte haben könnte.


 


1 ADR: American Depositary Receipt. Hinterlegungsscheine für Aktien von Nicht-US-Unternehmen.


2 VIE: Variable Interest Entity. Eine Struktur, bei der ein chinesisches Unternehmen eine Auslandstochter gründet, um im Westen börsennotiert zu sein, damit ausländische Investoren seine Aktien kaufen können.


 


Risikofaktoren, die vor einer Anlage zu beachten sind:

  • Dieses Dokument ist weder Anlageberatung noch eine persönliche Empfehlung.
  • Wert und Ertrag von Anlagen können schwanken, sodass Anleger ihr investiertes Kapital ganz oder teilweise verlieren können.
  • Die Ergebnisse der Vergangenheit sind kein Hinweis auf künftige Ergebnisse.
  • Wenn Ihre Anlagewährung gegenüber der Währung aufwertet, in der die Anlagen des Fonds denominiert sind, verliert Ihre Anlage an Wert. Dem soll mit einer Währungsabsicherung entgegengewirkt werden, aber der Erfolg der Absicherungsstrategie wird nicht garantiert.
  • Je nach Strategie können dazu auch die Risiken von Anleihen, Emerging-Market-Titeln und/oder High-Yield-Anleihen zählen. Emerging-Market-Anlagen sind volatil und ggf. auch illiquide.


Kirstie Spence ist Anleihenportfoliomanagerin bei Capital Group. Außerdem ist sie Mitglied des Capital Group Management Committee. Sie hat 28 Jahre Investmenterfahrung, ausnahmslos im Unternehmen. Sie hat einen Master in Germanistik und Internationalen Beziehungen von der University of St. Andrews (Schottland). Sie arbeitet in London.

Victor D. Kohn ist Aktienportfoliomanager bei der Capital Group. Er ist Präsident bei Capital International, Inc., hat 36 Jahre Investmenterfahrung und ist seit 35 Jahren im Unternehmen. Er hat einen MBA von der Stanford Graduate School of Business sowie einen Bachelor und einen Master (summa cum laude) in Industriemaschinenbau von der Universidad de Chile. Außerdem ist er Chartered Financial Analyst®. Kohn arbeitet in Los Angeles.


Die Ergebnisse der Vergangenheit sind keine Garantie für künftige Ergebnisse. Der Wert von Anlagen und Erträgen kann schwanken, sodass Anleger ihr investiertes Kapital möglicherweise nicht oder nicht vollständig zurückerhalten. Diese Informationen sind weder Anlage-, Steuer- oder sonstige Beratung noch eine Aufforderung, irgendein Wertpapier zu kaufen oder zu verkaufen.

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Die Capital-Group-Unternehmen managen Aktien in drei Investmenteinheiten, die ihre Anlageentscheidungen autonom treffen und unabhängig voneinander auf Hauptversammlungen abstimmen. Die Anleihespezialisten sind für das Anleihenresearch und das Anleihemanagement im gesamten Unternehmen verantwortlich. Bei aktienähnlichen Anleihen werden sie aber ausschließlich für eine der drei Einheiten tätig.