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Ausblick 2023: Der Ausblick für die Energienachfrage könnte auf eine mildere Rezession hindeuten
Robert Lind
Volkswirt

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2024-Bericht

IM ÜBERBLICK
  • Auch wenn Europa kurz vor einer Rezession steht, könnte die sich wandelnde Energienachfrage dazu führen, dass der Abschwung milder ausfällt als erwartet
  • Die europäische Industrie hat russisches Öl und Gas durch andere Energiequellen ersetzt, wodurch erhebliche Produktionskürzungen und ein Einbruch bei der Energienachfrage vermieden wurden.
  • Eine mildere Rezession könnte letztlich das Wertpotenzial europäischer Aktien freisetzen

Zusammenfassung: Der Energiebereich ist nach wie vor ein Schlüsselfaktor für die kurzfristige Entwicklung der Wirtschaft und der Aktienmärkte Europas. Und auch wenn die Region am Rande einer Rezession steht, gibt es Anzeichen dafür, dass der Abschwung milder ausfallen könnte, als dies unmittelbar nach der Invasion Russlands in die Ukraine befürchtet wurde.


Entscheidend dafür ist, dass die europäische Industrie russisches Öl und Gas mit anderen Energiequellen ersetzt hat, wodurch erhebliche Produktionskürzungen und ein Einbruch bei der Energienachfrage vermieden wurden – und die Belastung des BIP folglich weniger ausgeprägt sein könnte.


Eine mildere Rezession könnte letztlich das Wertpotenzial europäischer Aktien freisetzen und möglicherweise zu höheren Bewertungen führen, sofern die Zentralbanken ihre geldpolitische Straffung im Jahr 2023 einstellen. Kurzfristig sind die Konsensschätzungen für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und des Gewinns je Aktie (EPS) auf dem Kontinent jedoch immer noch zu hoch. Das bedeutet, dass die europäischen Märkte nur schwerlich eine Aufwärtsbewegung vollziehen werden.


Die Debatte rund um die Aussichten für die europäischen Volkswirtschaften und Finanzmärkte kreiste im Zuge des Russland-Ukraine-Konflikts hauptsächlich um die Energieversorgung bzw. die ausbleibende Energieversorgung. Wenn man die Entwicklung der europäischen Gasnachfrage im Jahr 2022 detailliert aufschlüsselt, zeigt sich jedoch, dass die Industrie mit der Situation besser zurechtkommt als erwartet.


EU-Nachfrage nach Industriegas geht schnell zurück

Stand 31. Oktober 2022. Quellen: Capital Group; European Network of Transmission System Operators for Gas

Kurzum: Bislang ist die rückläufige Gasnachfrage (rund 15 % in den ersten acht Monaten 2022 und schätzungsweise 25 % im dritten Quartal1) weitgehend darauf zurückzuführen, dass die Schwerindustrie diese Energiequelle ersetzt hat, und nicht auf einen echten Einbruch der Nachfrage (d. h. eine dauerhafte Abwärtsbewegung , hervorgerufen durch einen längeren Zeitraum, in dem die Preise hoch waren oder das Angebot knapp). Dieser Substitutionseffekt wird noch eine Weile anhalten, weshalb der Nachfragerückgang wahrscheinlich geringer sein wird als befürchtet, vielleicht sogar deutlich geringer. Das wiederum dürfte dazu führen, dass das europäische BIP weniger stark in Mitleidenschaft gezogen wird, als der Markt erwartet hatte.


Einschränkend sei angemerkt, dass es viele Faktoren gibt, die die Gasnachfrage beeinflussen, und es ist unmöglich, diese vollständig isoliert voneinander zu betrachten. Die aktuelle Diskrepanz zwischen Nachfrage und Industrieproduktion ist jedoch bemerkenswert und spricht für eine geringere Belastung des BIP. Die industrielle Nachfrage nach Gas ist im Laufe des Jahres 2022 zwar zurückgegangen, die Produktion ist jedoch nicht eingebrochen, was ungewöhnlich ist.


Die größten Gasverbraucher in der Industrie sind die Sektoren Raffinerie, Chemie und Metalle/Mineralien. Diese machen in der Regel 60 % bis 65 % der Nachfrage aus2. Seit der Energiekrise haben diese Sektoren Erdgas jedoch durch andere Energiequellen ersetzt. Statt Gas haben die Unternehmen Heizöl, Propan, Naphtha oder Diesel eingesetzt – und ihre Prozesse sind entweder bereits für diese Energiequellen geeignet oder sie lassen sich leicht ändern.


Ein ausschlaggebender Faktor für die Substitution mit anderen Energiequellen war der Preis. Vor dem durch den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine verursachten Preisanstieg war EU-Gas allgemein billiger (und sauberer) als andere Ölerzeugnisse. Da die Gaspreise (trotz der jüngsten Rückgänge) weiterhin über den Vorkrisenniveaus liegen, erscheinen diese konkurrierenden Erzeugnisse kostengünstiger. Offenbar gibt es keinen echten Kostennachteil, sondern eine erhebliche Gaseinsparung – und dies scheint vom Markt übersehen worden zu sein.


Mit Blick auf 2023 deuten diese Entwicklungen darauf hin, dass die Nachfrage nach Gas deutlich geringer ausfallen wird, was dazu beitragen könnte, die Auswirkungen des anhaltenden Russland-Ukraine-Konflikts auszugleichen. Obwohl es noch recht früh ist, legen die aktuellen Trends nahe, dass die Heiznachfrage niedriger ausfallen (vielleicht 5 % bis 10 %, wenn die aktuellen Sparquoten bei normaler Witterung Bestand haben) und die industrielle Nachfrage um 10 % zurückgehen wird (bei den aktuellen Run-Rates). Die Nachfrage nach Gas für die Stromerzeugung könnte auch um 15 % bis 25 % nachgeben, wenn sich die Bedingungen in der französischen Atomindustrie (ungewiss) und im Wasserkraftsektor in der EU (witterungsabhängig) normalisieren. Frankreich hat derzeit mit einer verringerten Leistung seiner Kernkraftwerke zu kämpfen, wobei eine Reihe von Streiks die geplanten Instandhaltungsarbeiten verzögern. Im Laufe des Jahres wurde aufgrund technischer Probleme weniger Strom aus Kernkraft erzeugt, und rund die Hälfte der Werke des Landes sind derzeit geschlossen.


Insgesamt bedeutet dies, dass der Gasbedarf im Jahr 2023 um weitere 10 % bis 15 % sinken könnte, zusätzlich zu dem voraussichtlichen Rückgang im Jahr 2022 (10 % bis 15 %). In Kombination werden damit erhebliche Einsparungen erzielt, die dazu beitragen würden, den Markt ins Gleichgewicht zu bringen.


Dagegen hat die Internationale Energieagentur (IEA) gewarnt, dass Europa in den wichtigen Sommermonaten 2023, in denen die Speicher aufgefüllt werden3, vor einem starken Erdgasmangel stehen könnte. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, den Verbrauch im Zuge der aktuellen Krise weiter zu senken. Der Bericht zeigt, dass die Gasspeicher in der EU nun zu 95 % gefüllt sind – und damit 5 % über dem fünfjährigen Durchschnitt liegen. Doch sollten diese Zahlen sowie die jüngst niedrigeren Gaspreise und ungewöhnlich milden Temperaturen nicht zu übermäßig optimistischen Schlussfolgerungen verleiten.


Das Nachfrageszenario erscheint zwar positiver, die IEA geht jedoch davon aus, dass es schwierig werden könnte, wenn die russischen Pipeline-Gaslieferungen für die EU vollständig eingestellt werden und sich die chinesischen Flüssigerdgasimporte (LNG) erholen und auf das Niveau von 2021 zurückkehren. Die niedrigeren LNG-Importe Chinas in den ersten 10 Monaten dieses Jahres haben wesentlich zur höheren Verfügbarkeit in Europa beigetragen, wodurch der Einbruch der russischen Gaslieferungen ausgeglichen werden konnte. Wenn die LNG-Importe Chinas jedoch auf das Niveau von 2021 zurückkehren, würde dies mit mehr als 85 % zum erwarteten Anstieg des weltweiten LNG-Angebots4beitragen.


In der Anfangsphase des Russland-Ukraine-Konflikts schätzten Analysten (einschließlich des IWF), dass die ausbleibende Energieversorgung durch Russland das BIP der Eurozone um 2 % bis 3 %5 sinken lassen könnte. Trotz höherer Preise und zunehmender Versorgungsunterbrechungen (insbesondere durch die Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines) scheinen die makroökonomischen Auswirkungen moderater auszufallen.


Allgemein betrachtet hat der deutliche Druck auf die Realeinkommen in Europa das Verbrauchervertrauen getrübt. Gleichzeitig haben die Haushalte jedoch die Sparquoten gesenkt, um den Konsum zu stützen. Die Umfragedaten haben sich im Herbst abgeschwächt, und die neuesten Zahlen des Einkaufsmanagerindex (EMI)6 für das verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor deuten darauf hin, dass sich die Rezession bis ins Jahr 2023 ziehen wird. Da die Branche sich gegenüber dem Energieschock jedoch als widerstandsfähiger erweist und die Regierungen den Haushalten und Unternehmen weiterhin Unterstützung bieten, dürfte die Rezession in Europa im Vergleich zur globalen Finanzkrise (2009 schrumpfte das reale BIP der Eurozone um 4,5 %7) und zum Abschwung während der Pandemie (2020 wurde ein Rückgang von 6,5 % verzeichnet8) milder und kürzer ausfallen. Ich gehe derzeit davon aus, dass das BIP in der Eurozone im Jahr 2023 um rund 1 % zurückgehen wird.


Eine weniger schwere Rezession könnte letztlich das Wertpotenzial europäischer Aktien freisetzen. Seit der europäischen Schuldenkrise Anfang der 2010er Jahre sind die relativen Bewertungen auf den US-amerikanischen und europäischen Märkten deutlich auseinandergedriftet. In den USA ist die implizite Aktienrisikoprämie (erwartete Aktienrendite abzgl. der erwarteten Rendite von Anleihen) zurückgegangen, während sie in Europa weiter gestiegen ist. Insbesondere die Prämien für deutsche und italienische Aktien sind seit dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine nach oben geschossen.


Implizite Aktienrisikoprämien (%)

Stand 31. Oktober 2022. Quelle: Absolute Strategy Research (ASR), Datastream

Angesichts der anhaltenden Unsicherheit in dieser Situation, der Energiepreise und ihrer Auswirkungen auf die Volkswirtschaften besteht die Gefahr, dass europäische Aktien eine Wertfalle bleiben (das bedeutet, dass sie attraktiv erscheinen, der Kurs jedoch weiter fällt). Es gibt jedoch drei weitere Bedingungen, die eine Neubewertung auslösen könnten, in deren Verlauf die Bewertungen von Aktien nach oben gehen.


Erstens, ein deutlicher Höchststand der Verbraucherpreisinflation, der es der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bank of England (BoE) ermöglichen würde, die Straffung der Geldpolitik zu beenden. Dies ist jedoch in den nächsten Monaten unwahrscheinlich, da sich die höheren Energiepreise immer noch in den Verbraucherpreisen niederschlagen, was beide Notenbanken darin bestärken wird, an ihrem derzeitigen Kurs festzuhalten. Wenn die Inflation jedoch Anfang 2023 ihren Höhepunkt erreicht, gehe ich davon aus, dass beide Zentralbanken ihre Zinsanhebungen einstellen werden und die Leitzinsen deutlich unter die aktuellen Markterwartungen fallen, sodass die EZB ihren Straffungskurs bei etwa 2 % beenden sollte und die BoE bei etwa 4 %.


Zweitens wird die bevorstehende Rezession wahrscheinlich die europäischen Gewinne belasten. So dürfte der Gewinn je Aktie im Jahr 2023 um 10 % bis 15 % nachgeben, was die Aktienmärkte noch nicht vollständig einkalkulieren. Sobald sich die Gewinnerwartungen jedoch angepasst haben, wird es mehr Spielraum für eine Neubewertung europäischer Aktien geben. Schließlich muss es neben inländischen Faktoren auch ein klares Signal der US-Notenbank (Fed) geben, dass sie ihren Straffungszyklus einstellt. Angesichts der aktuellen Inflationsdynamik in den USA und der jüngsten Rhetorik der Fed-Vertreter erscheint dies kurzfristig wiederum unwahrscheinlich.



Robert Lind ist Volkswirt bei Capital Group. Er hat 36 Jahre Branchenerfahrung und ist seit sieben Jahren im Unternehmen. Zuvor war er Group Chief Economist bei Anglo American und davor Leiter Macro Research bei ABN AMRO. Er hat einen Bachelor in Philosophie, Politik und Volkswirtschaft (PPE) von der Universität Oxford. Lind arbeitet in London. 


Erfahren Sie mehr über
  1. Stand Oktober 2022. Quelle: Internationale Energieagentur, Gas Market Report, Q4 2022
  2. Stand Ende 2019. Quelle: Oxford Institute for Energy Studies, Decarbonization and industrial demand for gas in Europe 
  3. Quelle: Never Too Early to Prepare for Next Winter: European Gas Balance for 2023-2024 report, IEA, November 2022
  4. Quelle: Ibid (IEA-Bericht für November 2022)
  5. Stand 19. Juli. Quelle: IWF (Internationaler Währungsfonds)
  6. Stand 23. November 2022. Quelle: S&P Global. Die Zahlen des Einkaufsmanagerindex (EMI) veranschaulichen die vorherrschende Richtung der wirtschaftlichen Trends im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor anhand einer Punktzahl von 0 bis 100. Ein EMI von über 50 zeigt ein Wachstum im Vergleich zum Vormonat an, während ein Wert von unter 50 einen  Rückgang signalisiert.
  7. Stand 2022. Quelle: Macrotrends, Weltbank
  8. Stand Februar 2021. Quelle: Eurostat

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